Die Tora hat zwei Dimensionen – eine offenbarte und
eine verborgene. Die offenbarte Dimension enthält die
Gesetze der Tora, die ein Ausdruck des Willens G-ttes
sind. Im Hebräischen heißt dieser Aspekt Gufej Tora,
»Körper der Tora«, oder Nigleh, die offenbarte Dimension.
Neben dem »Körper« gibt es auch die »Seele« der Tora
– die Kabbala. Sie birgt Einsichten über die g-ttliche
Existenz und ihre Offenbarung, den Schöpfungsprozess
und das Wesen der menschlichen Seele. Im Hebräischen
wird dieser Aspekt auch Sitrej Tora genannt, »die Geheimnisse
der Tora«, oder Nistar, die »verborgene Dimension«.
Der Begriff Kabbala kommt aus dem Hebräischen und bedeutet
»Empfangen«: Denn die Lehren der Kabbala wurde in jeder
Generation von einigen Auserwählten empfangen und weitergegeben.
Außerdem muss man, um Kabbala zu lernen und zu begreifen,
ein »Empfänger« sein und alle vorgefassten Ansichten
beiseite lassen.
Als innere Dimension der Tora vermittelt die Kabbala
Zugang zur inneren Dimension unserer Realität und dadurch
zur Erfahrung von G-ttlichkeit in dieser Welt. Das Ziel
der Kabbala ist aber niemals die Vermittlung von Informationen
per se. Ihre Einsichten und Weisheiten sind bloß ein
Mittel, eine Brücke, die den Menschen mit dem Schöpfer
verbinden soll.
Der
erste Kabbalist.
Der erste Mensch, der die Suche nach G-tt zum bestimmenden
Lebensinhalt machte, war Abraham (1813-1638 vZ.). Im
Laufe seines Lebens wurden ihm zahlreiche Geheimnisse
der Schöpfung offenbart. Ihm wird auch der älteste klassische
Text der Kabbala, Sefer Jezira, das »Buch der Formung«,
zugeschrieben.
Dieses grundlegende Werk beschreibt die »32 Pfade der
Weisheit«, die im Schöpfungsprozess wirken:
• Die 10 Sefirot (Emanationen) des g-ttlichen Lichts,
die den Schöpfungsprozess beleben und seine Parameter
definieren.
• Die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets, die Bausteine
der Schöpfung sind und Kanäle, durch die g-ttliches
Bewusstsein in die Schöpfung gelangt.
Abraham gab die ihm offenbarten Weisheiten an seinen
Sohn Isaak weiter, der sie an seinen Sohn Jakob weitergab,
der sie wiederum an seine 12 Söhne, die Vorfahren der
12 Stämme Israels, weitergab.
7 Generationen nach Abraham empfing das jüdische Volk
die Tora am Berg Sinai – in ihrer offenbarten und ihrer
verborgenen Dimension. Die mystischen Teile aber wurden,
über Jahrhunderte hindurch, nur Propheten und ausgewählten
Gelehrten anvertraut.
Etwa 100 n.Z. begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte
der jüdischen Mystik, als auf himmlische Weisung Rabbi
Schimon bar Jochai die Geheimnisse der Tora seinen Schülern
offenbarte. Die Einsichten Rabbi Schimons wurden im
Sefer HaSohar (»Buch des Lichtglanzes«) gesammelt, dem
klassischen Text der Kabbala. Nach Rabbi Schimon bar
Jochai gaben rund 1000 Jahre lang einige Auserwählte
jeder Generation die Lehren des Sohar weiter. Erst ab
dem Jahr 5000 nach der Schöpfung der Welt (13. Jahrhundert
n.Z.) fand der Sohar durch Rabbi Moses de Leon bedingte
Verbreitung. Doch selbst dann waren nur wenige Gelehrte
in der Lage, die überaus komplexen Inhalte zu bewältigen.
In den folgenden 250 Jahren versuchten mehrere Gelehrte,
einen konzeptionellen Rahmen zu erstellen, in dem die
lose verbundenen Lehren des Sohar verortet werden könnten.
Am überzeugendsten löste diese Aufgabe der große Talmud-Gelehrte
und Kabbalist Rabbi Mosche Cordovero (hebr. Akronym
»Ramak«) aus Safed (1522-1570). Sein Ziel war es, das
gesamte kabbalistische Gedankengut bis zu jener Zeit
zu systematisieren. In seinem Pardes Rimonim (»Der Granatäpfelgarten«)
demonstriert der Ramak die grundlegende Einheit der
kabbalistischen Tradition durch ein Ordnen der verschiedenen,
oft scheinbar widersprüchlichen Lehren in einem kohärenten
System. Kern dieses Systems ist eine detaillierte Erklärung,
wie der Schöpfer mittels der Zehn Sefirot aus dem unendlichen
g-ttlichen Licht endliche Realität emanieren ließ.
Der
»heilige Löwe«
Unmittelbar nach dem Ableben des Ramak begann der nächste
Abschnitt in der Offenbarung der Kabbala. Rabbi Isaak
Luria (der »heilige Ari«, 1534-1572) wurde in Jerusalem
geboren, lebte aber später in Ägypten, wo er als talmudisches
Genie bekannt war. In die Geheimnisse der Kabbala von
einem Lehrmeister eingeführt, verbrachte er oft ausgedehnte
Zeitspannen in Meditation. Ins Land Israel zurückgekehrt,
traf er in der Stadt Safed auf Rabbi Chajim Vital (1543-1620),
der sein bedeutendster Schüler und Interpret werden
sollte. Der Ari lebte nur noch zwei weitere Jahre (er
starb im Alter von 38 Jahren), aber in dieser kurzen
Periode gelang es ihm, einen neuen Zugang zu Studium
und Verständnis der jüdischen Geheimlehre zu offenbaren.
So maßgeblich waren seine Einsichten, dass ein »Studium
der Kabbala« bis zum heutigen Tag meist bedeutet: Studium
der Ari-Schriften.
Im Zentrum seines Systems steht eine radikal neue Beschreibung
der Evolution unserer Realität. Abweichend vom Ramak,
der autonome Kräfte linear wirken sah, beschreibt der
Ari eine Kräftekonstellation im aktiven Dialog. Er skizziert
die Sefirot nicht als eindimensionale Punkte, sondern
als komplexe und dynamisch interagierende Parzufim (personae).
Diese Kräfte befinden sich weiterhin in Wechselwirkung
mit der Schöpfung, und reagieren fortwährend auf den
vom Menschen zu bewältigenden Kampf zwischen Gut und
Böse.
Der Baal Schem Tov
Nach dem Ari gab es noch einen Gelehrten, der die theoretische
Entwicklung und praktische Verbreitung der Kabbala revolutionierte.
Das war Rabbi Israel Baal Schem Tov (1698-1760).
In der Ukraine geboren und ein führender Gelehrter,
war er jahrelang inkognito tätig, um die materielle
und spirituelle Notlage der jüdischen Bevölkerung zu
lindern. Gleichzeitig war er Mitglied in einer Fraternität
verborgener Mystiker, den Nistarim. 1734 offenbarte
er sich als Kabbalist und Heiler und schuf in der Folge
eine Bewegung, die jüdische Gemeinden in ganz Osteuropa
geistig wiederbeleben sollte. Diese als Chassidismus
bekannte Strömung gründete inhaltlich auf den überlieferten
Lehren der Kabbala, während sie nach draußen den einfachen
und freudigen Dienst G-ttes betonte, vor allem durch
Gebet und Taten der Nächstenliebe.
Es waren seine Schüler, allen voran Rabbi Schneor Salman
von Ljadi (1745-1812), Autor des »Buch Tanja« und Begründer
des Chabad-Chassidismus, die das Kabbala-Verständnis
des Baal Schem Tov ausformten und ausformulierten. Im
Chassidismus werden die abstrakten Begriffe der klassischen
Kabbala neu besetzt mit Begriffen aus der seelisch-psychologischen
Erfahrung des Menschen, die als allegorisches Modell
für ein Verständnis der Mysterien des Universums dient.
Auf diese Weise führte der Baal Schem Tov die kabbalistische
Lehre zu ihrem historischen Höhepunkt, sowohl die konzeptionelle
Entwicklung, als auch den Einfluss auf das tägliche
jüdische Leben betreffend.
© Jüdisches Wochenblatt