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Gedanke der Woche, Paraschat Tezewe:
Eine lange Stange
von Yanki Tauber
Dies ist das Problem: Sie sind hier
und wollen woanders sein (an einem besseren, erhabeneren,
spirituelleren Ort). Aber Sie sind nicht dort und werden
in absehbarer Zeit nicht dort sein – vielleicht
nie. Handeln Sie nun, als wären Sie dort? Oder
sagen Sie: Hier ist es auch schön; warum soll ich
überhaupt weitergehen? Sie können ein Heuchler
werden oder sich mit Ihren Grenzen abfinden. Aber es
gibt noch einen dritten Weg, den Weg der langen Stange.
In der äußeren Kammer des Heichal (Heiligtums)
im heiligen Tempel stand die Menora, ein fünf Fuß
hoher, siebenarmiger Leuchter aus purem Gold. Jeden
Morgen füllte ein Priester die sieben Lampen mit
reinstem Olivenöl, und nachmittags stieg er auf
eine Leiter mit drei Sprossen, um die Lampen anzuzünden.
Die sieben Flammen brannten die ganze Nacht und symbolisierten
das g-ttliche Licht, das vom heiligen Tempel aus die
ganze Welt erhellte.
Wer die Lampen anzündete, musste aber kein Priester
(kohen) sein, denn das Gesetz erlaubt auch einem Laien,
diese Mizwa zu befolgen. Doch es gibt auch ein Gesetz,
das den Zugang zum Heiligtum allein den Priestern erlaubt.
Laien durften nur bis zum Tempelhof (asara) gehen. Diese
beiden Gesetze sind juristisch paradox: ein Laie darf
die Menora anzünden, aber die Menora muss im Heiligtum
stehen, und das darf der Laie nicht betreten!
Es gibt Lösungen: Ein Laie kann die Menora mit
einer langen Stange anzünden, oder ein Priester
kann ihm die Menora bringen und sie dann an ihren Platz
zurückstellen. Dennoch bleibt der Widerspruch:
Wenn die Torah einem gewöhnlichen Juden erlaubt,
die Menora anzuzünden, warum wird der Leuchter
dann nicht an einen Platz gestellt, der jedem zugänglich
ist? Und wenn die Menora so heilig ist, dass sie unbedingt
im noch größeren Heiligtum stehen muss, warum
gestattet die Torah dann einem Laien, sie anzuzünden,
obwohl das Heiligtum ihm verschlossen bleibt?
Dieses Paradoxon, erklärte der Lubawitscher Rebbe,
ist Absicht. Die Torah will uns damit eine tiefgründige
Lehre erteilen – die Lehre von der langen Stange.
Sie besagt: Wir müssen nach spirituellen Höhen
streben, die außerhalb unserer Reichweite liegen.
Gewiss, wir sollen nicht vortäuschen, etwas zu
sein, was wir nicht sind (das wäre, als würde
ein Laie das Heiligtum betreten); aber wir dürfen
auch nicht in unseren Bemühungen nachlassen, diesen
Ort zu erreichen. Selbst wenn wir wissen, dass wir ihn
nie erreichen werden, können wir ihn dennoch beeinflussen,
auf ihn einwirken und ihn sogar erleuchten.
Das bedeutet manchmal, das jemand uns von diesem höheren
Ort aus die Hand reicht. Ein andermal bedeutet es, dass
wir herausfinden, wie wir über unseren derzeitigen
Platz hinausreichen können. In beiden Fällen
sind wir, was Rabbi Scholom DowBer von Lubawitsch „Lampenanzünder“
nannte: ein Mensch, der eine lange Stange mit einer
Flamme am Ende trägt und eine Lampe nach der anderen
anzündet. Keine Lampe ist zu niedrig, und keine
ist zu hoch für den Lampenanzünder und seine
Stange!
Der Standpunkt des Rebbe
Gedanken und Einsichten des Lubawitscher Rebbe
Wenn du dein Leben so führst, dass es dir sinnvoll
erscheint, kannst du dir nie einer Sache gewiss sein.
Dem Verstand fällt es zwar leicht, Lösungen
und Antworten zu finden, aber es fällt ihm noch leichter,
Fragen und Zweifel zu entdecken. Der Weg der Torah sieht
anders aus: Lerne und lasse die Torah in dir mit den Wahrheiten
schwingen, die du gelernt hast, bis dein Verstand, dein
Herz und dein Tun von einer Stimme geleitet werden, die
keine Hintergedanken hat.
Leitgedanken
„Reines Olivenöl, zum Leuchten gepresst“
(27:20).
Frage: Die Gemara (Menachot 86a) sagt,
man habe die Oliven in drei Gruppen geteilt: sehr gut,
mittel und geringwertig. Das Öl jeder Gruppe sei
ebenfalls in drei Qualitätsstufen eingeteilt worden.
Das zuerst gepresste Öl aus der sehr guten Gruppe
wurde benutzt, um die Menora anzuzünden. Das zweite
hochwertige Öl und das zuerst gepresste Öl der
mittleren Gruppe waren für Menachot (Speisopfer)
geeignet; aber nur das zuerst gepresste Öl der mittleren
Gruppe durfte für die Menora verwendet werden, nicht
das zweite Öl der sehr guten Gruppe. Das dritte Öl
der sehr guten Gruppe, das zweite Öl der mittleren
Gruppe und das zuerst gepresste Öl der geringwertigen
Gruppe eigneten sich zwar für Speisopfer, doch nur
das zuerst gepresste Öl der geringwertige Gruppe
durfte für die Menora benutzt werden. Warum war das
zuerst gepresste minderwertige Öl für die Menora
geeignet, nicht aber das zweite und dritte Öl aus
der sehr guten Gruppe?
Antwort: Nicht alle Menschen sind gleich.
Manche haben größere Fähigkeiten als andere.
König Schlomo sagt (Sprüche 20:27): „Ner
Haschem nischmat adam“ (Die Seele des Menschen ist
die Kerze G–ttes). Alles, was mit der Menora zu
tun hat, ist eine Lehre für das Leben der Menschen.
Die Lehre von den verschiedenen Ölsorten besagt,
dass G–tt von einem Menschen nicht verlangt, wie
ein anderer zu sein – aber er erwartet, dass jeder
Mensch sein Bestes tut. Wer also die höchste Stufe
erreichen kann, darf sich nicht mit der zweiten zufrieden
geben. Wer aber nur die zweite Stufe erreichen kann und
sich dort auszeichnet, ist ebenso erfolgreich wie jemand,
der sich auf der ersten Stufe hervorgetan hat.
Man erzählt, der berühmte Zadik Rabbi Suscha
von Anipoli habe einmal gesagt: „Wenn ich vor dem
himmlischen Gericht stehe, wird mir niemand vorwerfen,
ich sei nicht wie der Patriarch Awraham gewesen. Aber
ich fürchte, man wird mich fragen: ,Warum hast du
nicht erreicht, was du hättest erreichen können?’“
Die junge Frau von Rabbi Schmuel von Lubawitsch war
krank, und die Ärzte waren einhellig der Meinung,
dass es keine Hoffnung mehr gab. Als ihr Schwiegervater,
Rabbi Menachem Mendel von Lubawitsch, vom Urteil der
Ärzte erfuhr, sagte er: „Der Talmud fragt,
ob ein Arzt Kranke behandeln darf. Wenn G–tt
jemanden mit Krankheit schlägt, dürfen Menschen
ihm dann ins Handwerk pfuschen? Aber die Torah spielt
auf die ärztliche Therapie an, wenn sie sagt
(Exodus 21:19): ,Und er soll heilen.’ Daraus
schließen unsere Weisen, dass ein Arzt das Recht
hat zu heilen. Aber nirgendwo wird einem Arzt erlaubt,
einen Menschen für unheilbar zu erklären!“
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